Die EU-Richtlinie zur digitalen Barrierefreiheit (European Accessibility Act, EAA): FAQ
- By Von Kyra Kuik - März 08, 2024
Es gibt 135 Millionen Menschen in der EU mit einer körperlichen Beeinträchtigung – und diese Zahl wird aufgrund der alternden Bevölkerung weiter wachsen. Um die Rechte dieser Menschen, wie sie in der UN-Behindertenrechtskonvention festgelegt sind, zu wahren, hat die EU sowohl die Richtlinie zur Barrierefreiheit im Internet (EU) 2016/2102 als auch die Richtlinie zur digitalen Barrierefreiheit (auf Englisch „European Accessibility Act“, EAA) verabschiedet.
Die meisten Fristen für die früher verabschiedete Richtlinie zur Barrierefreiheit im Internet sind bereits abgelaufen.
In diesem Beitrag gehen wir darauf ein, was die neuere Richtlinie ist und welche Auswirkungen sie auf Ihr Unternehmen haben könnte. In Deutschland findet sich die Richtlinie als Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BSFG) und in Österreich als Barrierefreiheitsgesetz (BaFG) wieder. Für Schweizer Unternehmen ist die Richtlinie dann relevant, wenn sie ihre Produkte oder Dienstleistungen in EU-Ländern anbieten.
Was ist die EU-Richtlinie zur digitalen Barrierefreiheit?
Der „European Accessibility Act“ (auch bekannt als Richtlinie 2019/882) soll laut Europäischer Kommission „das Funktionieren des Binnenmarkts für barrierefreie Produkte und Dienstleistungen verbessern, indem Hindernisse beseitigt werden, die durch unterschiedliche Regelungen in den Mitgliedsstaaten entstehen.“
Bislang hatte jedes EU-Mitglied unterschiedlich geregelte Barrierefreiheitsstandards für Produkte und Dienstleistungen. Das führte zu einer geringen Auswahl und teuren Produkten für Verbraucher sowie zu kleinen Märkten, die Unternehmen wenig Anreiz boten.
Mit dem EAA sollen die Mitgliedsstaaten der EU jetzt einheitliche Barrierefreiheitsregeln haben, sodass Unternehmen konforme Produkte und Dienstleistungen leichter in der gesamten EU anbieten können – was die Auswahlmöglichkeiten für Verbraucher vergrößern wird.
Das Ziel der Richtlinie besteht darin, Barrierefreiheitsstandards zu harmonisieren und zu standardisieren, sodass Produkte und Dienstleistungen einem „Design for all“-Ansatz folgen. Laut der UN-Behindertenrechtskonvention bedeutet dieser Ansatz, dass „Produkte, Umgebungen, Programme und Dienstleistungen so gestaltet werden sollen, dass sie für alle Menschen in größtmöglichem Umfang ohne Anpassungen oder spezialisierteres Design nutzbar sind.“
Die Richtlinie besagt zudem, dass Apps und Websites mit den vier Hauptprinzipien der Barrierefreiheit gestaltet werden sollten: wahrnehmbar, bedienbar, verständlich und robust (auf Englisch „perceivable, operable, understandable, and robust“, POUR). Diese Prinzipien bilden die Grundlage der WCAG-Standards, den etablierten globalen Standards für digitale Barrierefreiheit.
Für wen gilt die EU-Richtlinie zur digitalen Barrierefreiheit?
Im Gegensatz zur begleitenden, früheren Richtlinie für Barrierefreiheit im Internet gilt die neue Richtlinie auch für private Unternehmen, die Produkte oder Dienstleistungen anbieten, die 1) für Menschen mit Behinderung als besonders wichtig angesehen werden und 2) in den Mitgliedsstaaten unterschiedliche Barrierefreiheitsanforderungen haben.
Im Prinzip zielt der EAA darauf ab, die wichtigsten Produkte und Dienstleistungen für Menschen mit Behinderungen zu standardisieren. Die Richtlinie umfasst Hardware, Software, Web und Dienstleistungen wie:
- Computer und Betriebssysteme
- Geldautomaten, Ticket- und Check-in-Geräte
- Smartphones und Tablets
- Fernsehgeräte und -ausrüstung für digitales Fernsehen
- Telefondienste und zugehörige Geräte
- Zugang zu audiovisuellen Mediendiensten, einschließlich TV-Übertragungen
- Dienstleistungen im Zusammenhang mit Luft-, Bus-, Schienen- und Wassertransport (Websites, Apps, Ticketdienste usw.)
- Bankdienstleistungen
- eBooks und eReader
- Notrufnummern
- Sämtliche Online-Shops und Apps, in denen Produkte angeboten werden
Der EAA gilt für alle Produkte und Dienstleistungen, die innerhalb der EU verkauft oder genutzt werden, unabhängig davon, wo die Unternehmen ansässig sind. Damit beispielweise auch für Unternehmen in der Schweiz, auf die die Beschreibung zutrifft.
Was sind die Vorteile der Richtlinie?
Für Unternehmen und Mitgliedsstaaten:
Bislang entwickelten Unternehmen Produkte oder Dienstleistungen, die nur mit den Barrierefreiheitsanforderungen eines oder weniger Länder konform waren. Das verringerte die Wettbewerbsfähigkeit und senkte den Anreiz, barrierefreie Produkte in zusätzlichen Ländern anzubieten.
Die EU-Kommission schätzt, dass unterschiedliche Barrierefreiheitsanforderungen Unternehmen und Mitgliedsstaaten im Jahr 2020 20 Milliarden Euro gekostet haben. Durch den EAA könnten diese Kosten um 45–50 % gesenkt werden.
Einheitliche Regeln zur Barrierefreiheit erlauben es Unternehmen, konforme Produkte und Dienstleistungen europaweit anzubieten, was ihren Markt erheblich erweitert und den Anreiz zur Entwicklung barrierefreier Angebote erhöht.
Für Verbraucher:
Für Verbraucher wird es mehr Auswahl geben, und Produkte/Dienstleistungen werden besser und fairer bepreist sein.
Die Richtlinie ermöglicht Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen auch ein unabhängigeres Leben, da sie sich auf mehr barrierefreie Produkte und Dienstleistungen verlassen können.
Weitere Vorteile der Richtlinie umfassen:
- Mehr Beschäftigungsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen, die an der Entwicklung barrierefreier Produkte/Dienstleistungen mitwirken können
- Einheitliche Barrierefreiheitsanforderungen erleichtern den Austausch zu Forschung, Technologien und Ideen, wovon alle profitieren
- Ein starker Barrierefreiheitsstandard in der EU wird globalen Einfluss haben („Brussels-Effekt“), da andere Länder ähnliche Standards übernehmen, um leichter auf dem EU-Markt konkurrieren zu können
- Menschen mit Behinderungen profitieren von mehr Bewegungsfreiheit und Jobmöglichkeiten innerhalb der EU, da sie auf standardisierte Barrierefreiheitsstandards vertrauen können
- Ältere Menschen, temporär körperlich Beeinträchtigte sowie Reisende brauchen ebenfalls leichter zugänglichere Produkte und Dienste
- Ein einheitlicher Markt bedeutet niedrigere Preise, größere Auswahl und mehr Innovation
Wie sieht der Zeitplan für den EAA aus?
Der EAA wurde im Juni 2019 von der EU verabschiedet. Bis Juni 2022 mussten die Mitgliedsstaaten die Richtlinie in nationales Recht übersetzen und übernehmen. Dies ist in Deutschland findet mit dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BSFG) und in Österreich mit Barrierefreiheitsgesetz (BaFG) geschehen. Bis Juli 2025 muss das Gesetz durchgesetzt werden. Konsumenten, denen ein Verstoß auffällt, können nicht-konforme Unternehmen dann anzeigen. In Österreich wird die Umsetzung zusätzlich durch das Sozialministerium überwacht.
Wer ist vom EAA ausgenommen?
Es gibt Ausnahmen für „unverhältnismäßige Belastungen“, was bedeutet, dass Unternehmen nicht verpflichtet sind, den Anforderungen nachzukommen, wenn diese das Produkt/Dienstleistung wesentlich verändern oder das Unternehmen wirtschaftlich überfordern würden.
Die Richtlinie gilt außerdem nicht für sehr kleine Unternehmen, also Unternehmen mit weniger als 10 Mitarbeitern und einem jährlichen Umsatz von unter zwei Millionen Euro.
Weitere spezifische Ausnahmen:
- Vor Juni 2025 veröffentlichte Video- oder Audioaufnahmen
- Vor Juni 2025 veröffentlichte Dokumentformate
- Digitale Karten, sofern wesentliche Informationen auf anderem Wege zugänglich bereitgestellt werden
- Inhalte Dritter, die nicht vom Unternehmen selbst finanziert, entwickelt oder kontrolliert werden
- Archivierte Inhalte, die nach Juni 2025 nicht aktualisiert werden
Wie wird der EAA durchgesetzt?
Jeder Mitgliedsstaat ist dafür verantwortlich, die Richtlinie zu überwachen und durchzusetzen, einschließlich der Festlegung von Strafen. Diese müssen „wirksam, verhältnismäßig und abschreckend“ sein.
Verstöße melden:
Mitgliedsstaaten sind verpflichtet, den Verbrauchern Möglichkeiten zu bieten, Verstöße entweder vor Gericht oder bei der zuständigen Behörde des Landes zu melden.
Unterschied zwischen der EU-Richtlinie zur Barrierefreiheit im Internet und dem EAA
Der EAA richtet sich an Privatunternehmen (oder öffentlich-rechtliche Organisationen, die die genannten Produkte/Dienstleistungen anbieten), während die EU-Richtlinie zur Barrierefreiheit im Internet (EU) 2016/2102 öffentliche Organisationen und deren Drittanbieter betrifft. Zudem deckt der EAA Hardware, Software und Web ab, während die frühere EU-Richtlinie lediglich Web und Apps betrifft.
Die EU-Richtlinie verweist explizit auf WCAG 2.1 Level AA, der EAA dagegen nicht.
Den Weg zur Barrierefreiheit einschlagen
Der EAA ist ein großer Fortschritt für EU-Mitgliedsstaaten und Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen innerhalb der EU. Die neue Gesetzgebung schafft bessere Marktbedingungen zu besseren Preisen für Verbraucher und macht Produkte, Dienste und Webseiten für alle zugänglicher.
Wenn Sie unsicher sind, wie Sie Ihre Barrierefreiheitsziele erreichen können, besuchen Sie unser Barrierefreiheitsportal, wo Sie kostenlose Tools, Ressourcen, Tipps und mehr finden.